Bill Viola und die Renaissance





Mit seinem neuesten Projekt hat sich Bill Viola ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Es geht ihm um die Darstelliung der "Passions", d.h. der menschlichen Empfindungen, oder mehr noch, und näher am lateinischen Wortstamm, der Leidenschaften. Mithilfe moderner Medien will er ihre Komplexität und Intensität ausloten.
Wie er selbst in einem seiner Kommentare zur Ausstellung verdeutlicht ist er "… daran interessiert darzustellen, was die Altmeister nicht gezeigt haben, all die Zwischenschritte."., d.h. Aspekte und Phasen der Emotionen, deren Darstellung anderen Epochen und Künstlern nicht möglich waren.
Die Vorbilder, auf die er sich bezieht, werden in einem ersten Raum vorgestellt, z.B. Hieronymus Boschs "Die Verhöhnung Christi", Dirk Bouts "Weinende Jungfrau"; vorzugsweise aber östliche Tradtionen wie sie sich in Fudo Myo-O, einem "Schutzheiligen" des Buddhismus zeigen.
Die Technik ist typisch Viola; perfekt inszenierte "Bilder", in schier endlosen, fast bis zum Stillstand verlangsamten Zeitlupenloops werden sich ihren Emotionen hingebende Einzelpersonen oder Gruppen gezeigt. Auf einen ersten Blick scheint es sich, wie bei dem "Schmerzensmann" (Man of Sorrows) in Raum 1 um Fotografien auf Plasmascreens zu handeln, bis man bemerkt, dass sich allmählich der Gesichtsausdruck und die Körperhaltung verändert - die Zeit scheint stillzustehen, Trance überfällt den Betrachter.
Prinzipiell ist nichts an der Themenwahl auszusetzen, Leidenschaften waren seit jeher das Herzblut der Kunst; oder am Ansatz, Kunst lebt von der Rezeption und Neuinterpretation bestehender Werke. Am Ende dieser Schau bleibt jedoch ein Gefühl der Leere. Die Behandlung wirkt in ihrer Mehrheit zu bemüht-theoretisch, zu ästhetisierend, künstlich und in der Folge kalt und bezugslos - ein Blick in die täglichen Nachrichten zeigt, bei ähnlichem Medium, mehr menschliches und tatsächlich erlebtes Leiden und Leidenschaften als die gesamte Ausstellung. Zu diesem Eindruck der Künstlichkeit trägt bei, dass die Clips von Schauspielern, und allzu häufig wenig überzeugend, weil weil bertrieben in Szene gesetzt werden - besonders deutlich wird dies bei "Observance", dem Video einer Gemeinde in Trauer. Daneben findet sich purer Kitsch - "Emergence", in dem zwei trauernde Frauen den Leichnam eines jungen Mannes aus einem Sarg heben, ein Zitat von Masolinos "Pieta" - und altbekannt-selbstreferenzielles. "The Crossing" ist eindrucksvoll, jedoch wenig mehr als eine Wiederholung bewährter Viola-Formeln. Der Triumph der Form und der Verpackung über den Inhalt?
Das Ganze hat daneben aber durchaus einen zeitpolitischen Bezug. Im Museumsshop werden nicht nur T-Shirts zum Stückpreis von 40 Pfund angeboten sondern auch Literatur. Die Auswahl ist bezeichnend, und wirft ein Schlaglicht auf den Zustand unserer Gesellschaft. Passend zu Thema und Zielrichtung der Schau sind das Werke und Wege zur Selbsterkenntnis, und geradezu ein spiritueller Gemischtwarenhandel der esoterischen Bewegungen aus Nah-, Mittel- und Fernost, Sufismus und Buddhismus, Yin und Yang, Ping und Pong. Es wird dem westlichen Standardbesucher wahrscheinlich gar nicht auffallen und überrascht insofern relativ wenig, dass sich christlich-abendlandisch Inspiriertes nur ganz am Rande findet. Positiv gesehen zeigt das natürlich die Offenheit, Toleranz und Liberalität der westlichen Gesellschaft, Errungenschaften jahrhundertelanger und oft schmerzlicher Erfahrungen. Auf der anderen Seite fragt man sich selbst als bekennender Spektiker, ob das nicht ein Zeichen der Wurzellosigkeit unserer Gesellschaft ist, die im Begriff scheint ihr kulturelles Umfeld, das eben in der christlich-klassischen Antike verwurzelt ist - oder etwa nicht mehr? - , zu verdrängen.
Davon kann bei den Ezxponten in der soeben eröffneten Ausstellung in der Royal Academy nicht die Rede sein. In gewisser Weise sind es Werke wie die hier gezeigten auf die sich Viola bezieht, die Altmeister mit ihren verklärten Madonnen- und Heiligendarstellungen, Kreuzabnahmen und Mirakeln.
Neben der "Armani!"-Ausstellung, die einiges Stirnrunzelon verursacht hat, zeigt die finanziell geplagte Royal Academy seit Ende November "Illuminating the Renaissance", eine Schau über flämische Buchmalerein mit dem sie sich einige ihrer vergraulten Stammkunden zurückgewinnen wird. Sie zeichnet die Entwicklung der flämischen Buchmalerei zwischen 1450 und 1550 in drei grossen Abteilungen chronologisch nach.
Die Blüte von Burgund fällt in jenen Zeitraum von wenig mehr als 100 Jahren. zwischen 1363 und 1477, als die "grossen Herzöge" aus dem Haus Valois - Philip der Kühne, Johann Ohnefurcht, Philip der Gute und Karl der Kühne - regieren, und das Herzogtum zu einer politischen, wirschaftlichen und kulturellen Grossmacht im Herzen Europas machen. Aus der Wechselwirkung zwischen dem feudal-konservativ geprägten Alt-Burgund und den eher städtisch-bürgerlich und fortschrittlich bestimmten Flandern entsteht eine einmallige kulturelle Mischung von enormer Strahlkraft.
Der Einfluss Burgunds kann für jene Jahre gar nicht hoch genug bewertet werden. Da sind die Begründung des Ordens vom Goldenen Vlies als Reaktion auf die osmanische Expansion auf Kosten des byzantinischen Christentums, burgundisches Hofzeremoniell, die Spätblüte abendländischen Rittertums sind Teilaspekte jenes Phänomens. Die grossen Komponisten der flämischen Polyphonie - Josquin Desprez, Antoine Busnois, Johannes Ockeghem, Heinrich Isaac, Phillippe Basiron, Phillippe Verdelot, Pierre de la Rue - waren gesucht und fanden Anstellungen an den europäischen Renaissancehöfen von Italien, Deutschland, Spanien und Portugal bis nach England. Und in der bildenden Kunst ist es die Malerei, grossformatig, Miniatur und Buchillumination, die ihre Inspiration zu grossen Teilen aus Flandern bezieht.
Buchillustration wird von der breiten Öffentlichkeit heute häufig etwas stiefmütterlich behandelt. Im Vergleich zur Malerei haftet ihr ein wenig der Hauch des Rückwärtsgewandten, Grossväterlichen an, betrieben von Künstlern die es ansonsten zu nichts Rechtem gebracht hätten, und erforscht von sonderlichen Spitzweg-Gelehrten in staubigen Büros, bewehrt mit dicken Brillen - gar nicht cool. Wie die Ausstellung jedoch zeigt, liegt diese Einschätzung ferner der Realität liegen. Buchillumination genoss gerade im 15.Jahrhundert hohes Ansehen, die prachtvollen Bände waren Luxusartikel und Prestigeobjekte, die Reichtum, Bildung und Geschmack ihrer Eigentümer unterstrichen. Gleichzeitig war es die letzte Blüte einer jahrhundertealten Kunst, kurz - in historischen Dimensionen zumindest - vor der Erfindung und Einführung der Buchpresse und dem zaghaften Beginn der Industrialisierung.
Ihre 'Ausstatter', Künstler wie Hourenbout, Bening, David oder Massys waren häufig in mehreren Formaten zuhause und übertrugen Neuerungen von einem Bereich in den anderen. Dass diese Neuerungen ihren Ausgangspunkt häufig in der Buchmalerei hatten, ist ein Punkt den die Ausstellungsorganisatoren nicht müde werden zu betonen. Zu Recht. Einer der atemberaubensten Beispiele ist das Manuskript des "Master of James IV of Scotland" in der Abteilung "Neue Wege" Auf mehreren Buchseiten demonstriert hier der unbekannte Meister seine Kreativität und virtuose Technik. In seine Landschaften und Architekturen setzt er schwebende Rahmen, deren Inhalt teils eine Fortsetzung der umgebenden Handlung ist, teils zu ihr in gewolltem - inhaltlichen und/oder perspektivischem - Widerspruch steht. Wie eine Kamera fährt der Beobachter in das zentrale Bild und wieder heraus - ein verwirrendes Spiel mit Perspektive und Wahrnehmung, das in der grossformatigen Kunst ihresgleichen sucht. In ganz ähnlicher Weise zeigt eines der Glanzstücke der Ausstellung, das Stundenbuch der Maria von Burgund aus der Österreichischen Nationalbibliothek (Katalog Nr.19) ein spätgotisches Hofffräulein - vermutlich Maria von Burgund, die Tochter Karls des Kühnen und spätere Gemahlin Kaiser Maximilians I. - vor einem geöffneten Butzenscheibenfenster, das den Blick in den Innenraum einer gotischen Kathedrale mit der Jungfrau, dem Kind und Heiligen eröffnet
Die Ausstellung liesse sich leicht unter dem Thema der Bordürengestaltung zusammenfassen. Man besieht sich die Miniaturen und ihre von Detailreichtum überbordenden Rahmen genauer und wird sich plötzlich unsicher. Sind es tatsächlich die Bilder die in die Bordüren hineingesetzt sind oder schweben sie vielmehr über ihnen, setzt sich deren kompliziertes Muster unter den ihnen fort? Was würde passieren, könnte man sie, wie mit einem moderen Desktop Publishing Programm, ein wenig nach rechts verrücken oder nach oben, unten und links? Das gleiche gilt für den Text. In den Froissart'schen Chroniques (Katalog 68) scheint das Bild unter den Text zu kriechen und sich dort fortzusetzen.
Der Neuerungen nicht genug - die Zeichen ihrer Kunst weisen weit in die Zukunft, und man kann den flämischen Künstlern mit einigem Recht die "Erfindung" der Stilleben-, Genre- und Landschaftsmalerei zuschreiben.
Katalognummer 75 mag dem modernen Betrachter auf den ersten Blick gänzlich unspektakulär erscheinen - ein Stück Seelandschaft zwischen zwei Hafenstädten. Die obere Hälfte ist ganz von einer offensichtlich englischen Ansicht eingenommen, im Hintergrund die schottischen (?) Highlands, am unteren Bildrand erstreckt sich eine flämische Hafenstadt. Das Besondere ist die Abwesenheit jeglicher Staffage. Haupt- und ausschliessliches Thema ist die Landschaftsdarstellung - eine der ersten in der abendländischen Kunst, und somit bahnbrechend für die Malerei der Niederlande und Europas. Ähnliches trifft für Katalognummer 73 zu, eine Gelageszene, die in ihrer Ausgelassenheit und augenzwinkernder Parodie zeitgenössischer Gesellschaft die grossformatigen Werke der niederländischen Malerei vorwegnimmt.
Eine längst vergangene Zeit ensteht somit vor den Augen des Besuchers, eine Epoche voller Leben und - in bemerkenswertem Gegensatz zur Bill Viola Schau - Leidenschaft.


Bill Viola. The Passions, National Gallery, bis 4.Januar, Eintritt £7, Katalog John Walsh (Hrsg.) J.Paul Getty Museum L.A., 308 S., Farbillustrationen £34,50.
Illuminating the Renaissance. The Triumph of Flemish Manuscript Painting in Europe, Royal Academy, bis 22.Februar (geschlossen am 24. & 25.Dezember), Eintritt £8 , Katalog Th.Kren, S.McKendrick (Hrsgg.), J.Paul Getty Museum L.A.,576 S., Farbillustrationen, £80 (gebunden).

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© Dirk Bennett 2003