La Ruche
Man nähert sich dem Musée de Montparnasse von jenem architektonischen Supergau inmitten von Paris, der in Beton und Asphalt erstarrten Wüste im Schatten des Tour de Montparnasse, und reibt sich verwundert die Augen. Da ist einmal nicht der erwartete bombastische post-, neo-, ultramoderne Museumsprotz, mit dem sich irgendein vormaliger Staatspräsident ein unzerstörbares Denkmal gesetzt hat, sondern findet sich ein unscheinbarer von einem malerischen schmiedeisernen Torbogen gerahmter Eingang in eine kopfsteingepflasterte Gasse - in London hiesse so etwas "Mews" - fast wäre man daran vorbeigelaufen! Es ist ein Arrangement so recht für den romantischen Kunstfan, und ein Eintauchen in eine längst vergangene Zeit, nämlich in das Paris der vorletzten Jahrhundertwende. Das Museum von Montparnasse entstand in jenen Jahren des 20.Jahrhunderts als Paris die Kunstmetropole der Welt war, und allem Anschein nach hat sich seitdem hier auch wenig geändert. Ganz niedrig sind die Häuser, nur zwei Stockwerke hoch und ein Dachgeschosss darüber, grosse Fenster hängen in alten Holzrahmen, von denen Schichten jahrzehntealter Anstriche abblättern, die Wände sind mit von der Witterung ausgelaugten graugewordenen Holzbrettern verkleidet, an denen sich der Efeu und Knöterich emporrankt. Blumenkübel stehen auf dem holprigen Pflaster und überhaupt ist alles so krumm und buckelig, dass es eine wahre Pracht ist. Wer mehr wissen will, den informiert eine Tafel am Eingang über die Baugeschichte und Hintergründe des Museums.
Inmitten der Gasse verliert sich fast das unscheinbares Hinweisschild zur Ausstellung. Die Organisatoren haben eine charmante Schau hingezaubert, viel zu wenig beachtetet und vor allem kunst-historisch faszinierend, und die nun hundertjährige Geschichte einer jener typischen Künstlerkolonien der Epoche, der "Ruche", des "Bienenkorbes" - das heisst nämlich ruche auf deutsch - nachgezeichnet. Das Bedauern, dass die Schau nicht direkt in den Räumen der Ruche selbst stattfinden kann, wird gemindert durch die vielleicht überraschende Erkenntnis, dass die Künstlerkolonie bis heute in Betrieb ist, ein wenig südwestlich gelegen, in der Passage Dantzig im 15.Arondissement (Métro Vaugirard). Wie das Museum ist auch der "Bienenkorb" heute eine von der Zeit vergessene Insel umgeben von trostlosen HLMs - "Asch el Em", der soziale Wohnungsbau der 60er und 70er in Frankreich - ,denen ja bereits der Chansonveteran Renaud seinen spöttischen (und hierzulande legendären) Abgesang gewidmet hat. Fast fiel es 1967 der Abrissbirne zum Opfer. Ironischerweise war den damaligen Stadtplanern ihre mit den geplanten und später umliegend erichteten Anlagen durchaus geteilte soziale Dimension gar nicht bewusst, nämlich die Beherbergung und Unterstützung Bedürftiger. Dass dazu auch Künstler aller Art gehören, die den Gründern und Mäzenen der Jahrhundertwende noch besonders am Herzen gelegen hatten, war einer elitefeindlichen Gegenwart ganz offensichtlich entgangen oder einfach verdrängt worden. Im Paris der ersten Jahrzehnte jedenfalls wurde von grosszügigen Mäzenen für kreativen Freiraum für Künstler gesorgt, wie es die Cite Falguiere, die Cite Fleurie und in der Rue Tourlaque, die Cité des Fusains oder die Villa des Fusains belegen, letztere eine private Anlage, in deren 12 Apartments unter anderem Renoir, Toulouse Lautrec, Miro und Ernst zeitweilige Unterkunft fanden.
Die Ruche wurde vom als Bildhauer im ausgehenden 19.Jahrhunderts erfolgreichen Alfred Boucher, der aus eigener Erfahrung um die Schwierigkeiten des Künstlerberufes wusste, im Jahre 1902 eröffnet. Eine seltene Kombination von Talenten, nämlich zu gleichen Teilen geschickter Geschäftsmann und Künstler, erwarb er ein Grundstück unweit der Schlachthöfe im damals unmodernen und daher wohl entsprechend preiswerten Viertel um Vaugirard und verpflanzte hierher den, vermutlich ebenso günstig erworbenen, ehemaligen "Pavilion des Vins de Bordeaux" von der Pariser Weltausstellung von 1900.
Mit Mitbewohnern vom Schlages eines Blaise Cendrars, ex-Femdenlegionärs, Lebemanns und Autors der aberwitzigen Abenteuer des englischen Multimillionärs Dan Yacks, kann man sich die Belegschaft des Bienenkorbes bunter kaum vorstellen. (Chagall erinnert sich, dass er eine Einladung zum Frühstück bei dem exzentrischen Schriftsteller, der ihm in vielerlei Hinsicht behilflich gewesen war, ausschlug "Car j'étais joli garçon et il me faisait peur"). Vom Schriftsteller bis zum Bildhauer tummelten sich die Bohemiens, hommes artistes aller Sparten. Dabei waren in der im Prinzip internationalen Kolonie zunächst die aus ihrer krisengeschüttelten Heimat geflohenen russischen Künstler bestimmend, Archipenko, Chagall, Kikoïne, Maïk, Zadkine um nur einige wenige zu nennen. Eine Vorstellung des Lebens in den Ateliers bieten zwei Filme, die zahlreichen Fotografien in der Ausstellung und -eine charmante Idee - der Nachbau des Ateliers von Jacques Chapiro, der von 1925-30 hier residierte. Die Ruche entwickelte jedenfalls eine erhebliche Anziehungskraft und bald finden sich unter ihrer Belegschaft u.a. der derzeit im Musée de Luxembourg ausgetstellte Modigliani (s. AZ Heft ), von dem einige Karyatidenentwürfe zu seinem "Temple de la Volupté ausgestellt sind, Max Ernst, Fernand Léger und sogar Künstler aus Übersee wie Diego Rivera - der zeitweilige Geliebte Frieda Kahlos (deren langerwartetes Filmporträt mit Selma Hajek in der Hauptrolle nun endlich in die Kinos zu kommen scheint). Als Gegenströmung zur etablierten Kunstszene entwickelt sich in jener "Villa Médicis de la misère" eine eigene "Ecole de Paris" .
Einer ihrer dauerhaftesten Bewohner wurde der holländische Maler Max Raedecker, der bereits ihrer zweiten Phase nach dem Zweiten Weltkrieg angehörte. Er lebte von 1945-1987 in der Ruche. Die grossen Namen haben nun allerdings längst das Weite gesucht, sind gestorben oder befinden sich in den USA. Eine Art Dornröschenschlaf scheint sich über die einst so lebendige Kolonie gesenkt zu haben, aus dem sie 1967 mit ihrer angedrohten Schliessung unsanft gerissen wird. Noch einmal finden sich die alten Arbeitskollegen und Kampfgenossen zusammen um die Schliessung zu verhindern und ihr Überleben zu sichern.
Auf die Frage wie überlebt, oder vielleicht im Gegenteil aktuell und anwendbar auf heutige Zeiten das Modell der Ruche und ihrer Zeitgenossen ist, sei darauf verwiesen dass heute, in ihrer dritten Phase, wieder ca ca. 60 Künstler in der Ruche leben und arbeiten. Sie ist einmal im Monat öffentlich zugängig und die Presseabteilung des Musée de Montparnasse gibt gerne weitere Auskunft. Ihr Einfluss ist durchaus bleibend und weitreichend. Immerhin in Japan hat die Yoshii-Stiftung die Ruche originalgetreu in Kiyoharu nachgebaut und für Künstler zur Verfügung gestellt.
La Ruche, une cité d'artistes "1902-2002", Musée de Montparnasse, bis 14.Mai 2003, 4 Euro, Katalog Sylvie Buisson, im Eigenverlag, 96 S., zahlreiche teils farbige Abb., 18 Euro.
© Dirk Bennett 2003