Modigliani


Wenn die Augen die Spiegel der Seele sind, was bedeuten dann jene typischen monochromen, wie seelenlos oder erloschen scheinenden Augenhöhlen Modiglianischer Porträts? Ist es die Verzweiflung über das Morden des 1.Weltkrieges, kubistisch-expressionistischer Zeitstil, oder, poetisch interpretiert und ach so passend angesichts seiner tragischen Lebensumstände, die Vorahnung des eigenen, viel zu frühen Todes?
Ihren Titel entnimmt die Ausstellung im Musée du Luxembourg einer Postkarte Modiglianis an einen seiner Freunde und Gönner, den Doktor Paul Alexandre, in dem er, bereits gezeichnet von Krankheit, das Schicksal als einen Engel mit ernstem Gesicht bezeichnet. Und wer wäre besser geeignet dessen Unberechenbarkeit und Ungerechtigkeit, und die Machtlosigkeit des Einzelnen im Angesicht übermächtiger Markt- und anderer Kräfte zu beklagen? Konfrontiert mit einer viel zu früh vom Schicksal beendeten und mithin unvollständigen Künstlerkarriere steht die Nachwelt somit vor dem Dilemma, sich dem - voreiligen? arroganten? unversöhnlichen? - Urteil der Expertenwelt anzuschliessen, die sein Werk mit leichter Herablassung als leichtgewichtig oder gar, schlimmstes Urteil, ornamental abtut. Oder, in krassem Gegensatz dazu, den Sammlern und Enthusiasten folgen, die seine Gemälde seit jeher geschätzt haben, und die nicht müde werden, auf das zukunftsweisende aber leider, leider unerfüllt gebliebene Potential des "Botticelli Nègre" (Adolphe Basler) oder des "Schwans von Livorno" (Paul Dermée) hinweisen. Ein Zeichen seiner ungebrochenen Wertschätzung sind jene 8,479,500 $ (inkl. Käuferaufgeld), die vor wenigen Wochen für sein Porträt eines rothaarigen Jünglings bei Sotheby's New York erzielt wurden. In der Tat ist ein Blick in eine mögliche alternative Zukunft verführerisch, am Ende hilft jedoch das Rütteln am unerbittlichen Rad des Schicksals nicht, bleibt solch virtuelle Kunstgeschichte unrealistisches "was wäre wenn", und das vorhandene Werk das einzig verfügbare Mass des Künstlers.
Die glänzend präsentierte Schau konzentriert sich auf Modiglianis malerisches Werk im Paris der ersten zwei Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts. Mit Marc Restellini hat sich einer der bekanntesten - wenn auch wie immer in solchen Fällen in der Fachgemeinde nicht unumstrittenen - Modigliani-Experten der Mission angenommen das vorhandene Werk nun endlich in den ihm gebührenden Rang zu rücken. Restellini ist vor allem als Verfasser eines vieldiskutierten und problembehafteten catalogue raisonné zum Werk Modiglianis (noch in Arbeit; die endgültige Publikation wurde inzwischen auf frühestens 2003 verschoben) und als Organisator von Modigliani-Retrospektiven 1992 in Tokio und in Lugano 1999, sowie Ausstellungen unter anderem zu George Rouault, Impressionistischen Malerinnen, Zborowski und Eugène Boudin hervorgetreten. Dank der vor allem im Verlaufe der 90er Jahre erfolgten Fortschritte präsentiert die Schau etliche Neuzuschreibungen und -entdeckungen, im Ganzen 140 Werke, d.h. ca. ein Drittel des Gesamtwerks.
Die zwei Säle zu Beginn geben Hintergrundinformationen zu Modigliani im Paris Ende des ersten Jahrzehnts, seine Einbindung in die sich am Montmartre (wo sonst?) tummelnde Künstler- und Mäzenatenszene. Seit 1906 lebt der von Jugend an kränkliche Künstler mit häufig wechselnder Adressen im traditionellen Künstlerviertel von Paris. Seine erste grosse künstlerische Liebe, die Skulptur muss er um 1913 aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Von da an widmet er sich bis auf wenige Ausnahmen der Porträtmalerei. Sein Werk besieht sich denn auch wie ein Who is Who der Zeit. Er malt seinen Bekanntenkreis, bekannte, und weitaus häufiger längst vergessene Vertreter jener Kolonie von Dandies, Paradiesvögeln, Trittbrettfahrern und armen Schluckern, die damals Montmartre bevölkerten. Ab 1917 kommen die ersten Akte hinzu, die er wegen "outrage à la pudeur" zurückzuziehen gezwungen ist. Leider bleibt ein häufig zu beobachtender Nebeneffekt eines solchen Skandals aus und er verkauft nicht ein einziges jener Stücke, die heute geradezu zu seinem Markenzeichen geworden sind. Der Hauptraum, eine historistische von einer Glas und Eisenträgerkonstruktion überspannte Halle, präsentiert die Bilder jener Epoche, abgedunkelt mit schwarz bespannen Wänden und einem im Saalinneren verlaufenden Stahlgerüst. Mit Spotlights einzeln ausgeleuchtet sind sie geradezu atemberaubend in ihrer Leuchtkraft und Energie. Die Überschriften der einzelnen Sektionen - "Paul Alexandre. Mäzen und Mediziner", "Tempel der Lust. Die Karyatiden", "Schwierige Rückkehr zur Malerei", "Kubismus", "Das Gesicht. Maske der Seele", "Fülle", "Aufenthalt in Nizza", "Ende eines Meteors" - und Begleittexte sind an die Wände und auf den Boden projiziert.
Es ist erkennbar, seine erste Liebe hat ihn nie mehr so recht losgelassen. Seine Bilder können ihre Nähe zur Plastik nicht verleugnen, sind häufig geradezu bildgewordene Skulptur. Noch deutlicher wird diese Verwandschaft in seinen Zeichnungen, die häufig wie Entwurfsskizzen für Statuen anmuten. Der Vorteil des Ausstellungskonzepts, die Konzentration auf das malerische Werk, kommt in dieser Sektion auch überzeugend zum Tragen. Zum Einen wird die Entwicklung seines persönlichen Stiles von seinen postimpressionistisch beeinflussten Anfängen bis zu seinem klaren "Spät"-stil deutlich. Zum Anderen - und hier erreicht Marc Restellini sein hochgestecktes Ziel - zeigt er sich als ausgesprochen eigenständiger, unverwechselbarer Künstler. Nie folgt Modigliani ausschliesslich einem "Modestil". In den elegant überlängten Köpfen - in Kontrast zu den gerade bei seinen Porträts von Landleuten häufig schweren Gliedmassen und Händen -, den kleinen geschürzten Mündern, der sorgsam eingesetzten Asymmetrie, den erdigen jedoch strahlenden Farben seiner Porträts (und Akte) mischen sich Elemente Anfang des Jahrhunderts so einflussreicher Stammeskunst mit postimpressionistisch-cezanneschem Einfluss und kubistisch herber Strenge.
Im September 1919 scheinen sich die Dinge für ihn endlich zum Guten zu wenden. In der Folge der aufsehenerregenden White Chapel-Ausstellung "Modern French Art" erhält er eine erfolgreiche Einzelausstellung in der Hill Gallery in London; vier seiner Gemälde werden auf dem Pariser "Salon d'Autumne" ausgestellt. Doch dann bricht die Krankheit erneut aus.
Am 24.Januar 1920 stirbt der "Botticelli der Moderne" - wie über 400 Jahre zuvor die Geliebte des Renaissancemalers - an den Folgen der Tuberkulose. Der "strahlende Komet" ist erloschen und am folgenden Tag begeht seine Geliebte, Jeane Hébuterne, hochschwanger, Selbstmord. Bereits an seinem Grab soll das Schachern um seinen Nachlass begonnen haben.
Modigliani. Der Engel mit dem ernsten Gesicht, Musée du Luxembourg, bis 2.3.2003, Eintritt 9 Euro, Katalog Marc Restellini et al., Éditions Skira in französisch, englisch und italienisch, 430 Seiten, 45 Euro

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© Dirk Bennett 2003