Robert Koldewey - der Ausgräber Babylons
"Angehörige einer bibelfesten Sekte, zwei weibliche und drei männliche kamen nach Sündenbabel und wollten alles sehen. Sie saßen abends am Euphratufer und sangen fromme Lieder, die sehr lustige Melodien hatten. Im Gastrzimmer hielten sie Betstunden ab, zu denen sie uns einluden,. Im übrigen tranken sie Whisky. Koldewey führte sie durch die Ruinen, zeigte ihnen einen Ziegelschlackenberg als die Stätte des "feurigen Ofens", eine tiefe Ausgrabung als die Löwengrube Daniels, und den Thronsaal, wo das Menetekel an der Wand erschienen war. Da lag eines von den Millionen von Ziegelbruchstücken mit dem Stempel des Nebukadnezar (von Belsazar gab es keine) und die Gläubigen stürzten darauf zu: Sie hatten das Wandstück mit der Inschrift gefunden! Koldewey nahm das Fundstück ernsthaft mit nach Hause und versagte ihnen den Wunsch es zu besitzen. Ein so außerordentlich wertvolles Fundstück könnte er keinesfalls weggeben, sie müßten sich an der Entdeckerfreude genug sein lassen. - Als wir ihm nachher Vorwürfe machten, daß er den armen Leuten einen solchen blauen Dúnst vorgemacht habe, antwortete er ernst: "Wieso? Wer glaubt, ist selig! Sollte ich ihnen die Freude nehmen und sie enttäuschen? Das wird bis an ihr Lebensende d a s große Erlebnis für sie bleiben!"
Längst war zu diesem Zeitpunkt - irgendwann zwischen 1911 und 1916 - die Ausgrabung in Babylon weltbekannt und ihr Ausgräber Robert Koldewey eine Berühmtheit geworden. Nicht nur solch leichtgläubige und denkschwache Besucher, Menschen, wie sie Koldewey zeit seines Lebens unerträglich fand, strömten herbei. Kollegen, Weltreisende, Künstler belebten die Stätte der alten Hauptstadt des neubabylonischen Reiches, die der Ausgräber ihrem jahrhundertelangen Schlaf entrissen hatte.
Es sind Anekdoten wie die genannte, denen der Ausgräber Babylons seinen Ruf als gelegentlich ruppige, häufig überhebliche, dabei humorvolle, in jedem Fall aber exzentrische Persönlichkeit verdankt.
Am 20.September 1855 wurde Robert Koldewey in Blankenburg im Harz in der Nähe von Braunschweig geboren. 1865 zog seine Familie nach Hamburg, wo er sein Abitur am Altona-Gymnasium absolvierte. Es ist die unruhige Zeitspanne des Aufstieges Preußens unter Bismarck, der Auseinandersetzungen mit Dänemark, des preußisch-österreichischen und des deutsch-französischen Krieges. Seine Studienzeit - er entscheidet sich für Architektur, Archäologie und Kunstgeschichte - verbringt der junge Mann in Berlin, München und Wien. Sie verläuft offensichtlich relativ ruhig, ja ereignislos und noch deutet nichts auf die zukünftige Karriere als Archäologe und Forscher hin.
Doch dann, 1882, finden wir den 27-jährigen Koldewey in Assos, an der türkischen Mittelmeerküste nördlich des heutigen Izmir (oder: südlich des heutigen Cannakale).
Die Vorgeschichte dieser Ausgrabung ist erwähnenswert, und mutet in Anbetracht moderner Projekte geradezu abenteuerlich an: 1878 beschließen zwei amerikanische Hochschulabsolventen - Francis Bacon und Clarke - eine Forschungreise in die Türkei. Die Schiffsreise nach Europa frißt einen Großteil ihrer Ersparnisse, an eine Weiterfahrt auf dem üblichen Weg ist nicht mehr zu denken. So kaufen die beiden in England ein Boot und legen die Strecke ins Mittelmeer über Rhein, Donau, Schwarzes Meer, die Dardanellen in eigener Initiative zurück. Ein Vorbericht über Assos verschafft ihnen weitere Gelder, so daß sie 1881 mit den Arbeiten beginnen können. 1882 stößt, wie erwähnt, Koldewey dazu. Unterkunft ist ein altes Zollhaus im Hafen von Assos, an der steilen Küste unterhalb des antiken Stadtgebietes gelegen. Die finanziellen Probleme reissen nicht ab. Dies führt soweit, daß die Ausgräber Schuldscheine mit privaten Stempeln an die ortsansässigen Arbeiter und Händler ausgeben müssen, die, will man späteren Aussagen Glauben schenken, noch Jahre später als akzeptiertes Zahlungsmittel im Umlauf waren. Als die Kampagne im Jahre 1883 endet, hat Koldewey mit den beiden Amerikanern Freunde fürs Leben gewonnen. Weit entscheidender jedoch, markiert diese Ausgrabung einen Wendepunkt in seinem bisherigen Leben: er entdeckt seine Berufung zum Archäologen. Sein späteres Motto "Fodere necesse, vivere non" - frei übersetzt "Ausgraben will ich, nicht leben!" - illustriert nur zu deutlich die Ausschließlichkeit seines Engagements, die sich mit den Ausgrabungen in Babylon zur wahren Besessenheit steigern sollte.
Die folgenden Jahre stehen im Zeichen eines sich allmählich entwickelnden und verfestigenden Rufs Koldeweys als verlässlichen Ausgräbers und kompetenten Forschers. In einer Zeit, wo archäologische Feldforschung noch häufig von privaten Institutionen gefördert wurden und in ihrer Durchführung auf Privatinitiative beruhten, bedeutet dies jedoch auch einen ständigen Kampf um Projekte und finanzielle Mittel. Dabei profitiert er zunächst noch von der Ausgrabung in Assos: seine häufigen Ausritte und Besuche in der Umgebung sind für ihn Anregung für weitere Projekte. So gräbt er 1885/86 auf Lesbos und 1889 in Neandria, außerdem kommt er 1887 auf einer Forschungsreise nach Surghul und El Hibba erstmals mit den vorantiken (vorklassischen) Kulturen Kleinasiens in Berührung. 1890, 91 und 94 nimmt er an Kampagnen in Sendschirli teil, die ihn mit den monumentalen Überresten einer bisher gänzlich unbekannten, nämlich der assyrischen Kultur und ihrer mesopotamischen Einflüsse konfrontiert. Er lernt eine Vielzahl der damaligen archäologischen Koryphäen persönlich kennen -Puchstein, Furtwängler, von Luschau usw. - und sammelt eine Vielzahl Erfahrungen, die ihm später von Nutzen sein werden. Seine Experimentierfreude zeigt sich bereits jetzt: Ein Vorrat an Ernährungspillen soll ihn in Neandria unbhängig von konventioneller Nahrungsmitteln machen. Das Experiment scheitert und wird von Koldewey nicht mehr wiederholt. Ruhigere Grabungskollegen haben gelegentlich unter dem lebhaften Temperament Koldeweys zu leiden. So Puchstein, mit dem er sich 1892 und 93 in Sizilien und Unteritalien befindet:
"Puchstein, der große schwerfällige Pommer reizt den beweglichen, sanguinischen Koldewey ständig zu Plänkeleien. Koldewey umhüpft ihn, stichelt von dieser und jener Seite und sucht ihn durch Ohrenzwicker und Nasenstüber in Bewegung zu bringen. 'Mal hat er ihm eine Stange Siegellack an den Kopf geworfen, so hatte ich ihn geärgert', sagte mir Koldewey."
Ein Lieblingssport der Archäologen ist das Erfinden und Ausspinnen fantastischer Geschichten, um gutgläubige Zeitgenossen zum Besten zu halten, eine Disziplin, in der es Koldewey, wie die bereits eingangs erwähnte Episode zeigt, zu wahrer Meisterschaft brachte. Es verbarg sich bei ihm jedoch mehr hinter dieser Spottlust als reine Lust am Fabulieren oder harmlosem Humor. Vielmehr verbarg sich dahinter eine zunächst durch den Humor gemilderte, im Laufe der Jahre aber immer deutlicher hervortretende Unduldsamkeit gegenüber Denkschwäche und Leichtgläubigkeit seiner Umwelt. Die Anforderungen, denen sich der Forscher auf den einzelnen Ausgrabungen gegenübersieht - Fieber, Schlangenbisse, Probleme mit Arbeitern und einheimischer Bevölkerung, organisatorische
Es gelingt dem Neuling seine Fähigkeiten auf zahlreichen Ausgrabungen bis 1895 unter Beweis zu stellen, doch es fehlt eine langfristige berufliche Perspektive. So zwingen ihn finanzielle Überlegungen, für die Jahre 1895-98 eine Anstellung als Lehrer an der Baugewerbeschule in Görlitz anzunehmen. Es sind wohl die unerträglichsten Jahre seines Lebens. Der an Selbständigkeit und Freiheit gewöhnte Forscher empfindet die Schüler als faul, die Stadt provinziell und die Gesellschaft seiner Kollegen langweilig.
"Ich sehe die Zeit heranrücken, wo ich umziehen muß, meine Wohnung hier ist mir verekelt; die Stube nebenan hat ein Kollege gemietet, den genieße ich nun also im Lehrerzimmer täglich mehrmals - dann bei Tische, denn er ist mit mir in demselben Hotel an demselben Tisch, dann kann man sich auf der Straße kaum vorbeilaufen - man geht auf dasselbe Kloset und ich höre seine liebe Stimme des Morgens, des Abends, zu jeder Tageszeit nebenan mit der Wirtin quatschen - er ist einer der langweiligsten Persönlichkeiten, die ich jemals kennengelernt habe - ich fürchte Wahnsinn!..."
Darüber hinaus hat er sich gegen Versuche "seiner Freunde", ihn zu verheiraten zur Wehr zur setzen. .
"..man verlangt durchaus von mir, daß ich hier die alten Schachteln wegheirate..."
Man kann sich vorstellen daß sein so offen zur Schau getragener Widerwillen im Verein mit seinem spöttischen Wesen durchaus nicht zum angenehmen Zusammenleben beigetragen hat. So macht sich Koldewey nicht immer auf subtile Weise während der obligatorischen Stammtischsitzungen der Görlitzer Gesellschaft durch unglaubliche Geschichten seiner Ausgrabungen über seine Umwelt lustig:
" Die babylonische Sonnenglut machte die Haut platzen weshalb die Araber stets Nadel und Faden bei sich haben um die Haut zuzunähen. Die Schlösser der Flinten muß man mit Tüchern umwickeln, damit der Schuß nicht von selbst losgeht - und die Zigaretten braucht man nur gegen den glühenden Sand zu halten, um sie anzuzünden."
Während seiner unfreiwilligen Verbannung verliert er dennoch nicht den Kontakt zur Archölogie. Er nutzt die Zeit, um die Ergebnisse seiner bisherigen Ausgrabungen aufzuarbeiten, ihre Publikationen vorzubereiten und mit Forscherkollegen zu kommunizieren.
Endlich - und es mag ihm wie eine Erlösung erschienen sein - erhält er den Auftrag zur Vorauserkundung eines möglichen Projektes unter der Ägide der Königlichen Museen zu Berlin eine Reise ins Zweistromland zu unternehmen. Gemeinsam mit dem Linguisten Sachau, mit dem sich, wie könnte es anders sein, bald Spannungen ergeben, werden Babylon, Nippur, Uruk, Assur, Hatra und viele andere Stätten bereist. Koldewey bemerkt dazu, er hätte allein gut und gern das Doppelte gesehen, wäre da nicht der Stubengelehrte als Klotz an seinem Bein gewesen! Das schlechte Verhältnis setzt sich nach ihrer Rückkehr nach Berlin fort, als sich beide mit ihren Vorschlägen durchzusetzen versuchen: Sachau favorisiert Assur, Koldewey plädiert für Babylon. Schließlich setzt sich letzterer durch, den Ausschlag geben seine Erfahrung als Ausgräber und eine Handvoll farbiger und emaillierter Ziegel, die Koldewey der Kommmission unter dem Berliner Generaldirektor Schöne vorlegt. Im Namen der Berliner Museen soll die Ausgrabung von der erst kürzlich gegründeten Deutschen Orientgesellschasft durchgeführt werden. Koldewey erhält die Leitung zunächst auf 5 Jahre und die stattlich Summe von 500 000 Reichsmark.
Auch aus späterer Sicht kann die Wahl von Platz und Person nur als glücklich bezeichnet werden: die Funde waren überwältigend. Außerdem lassen sich im über lange Perioden besiedelten Babylon die aufeinanderfolgenden Kulturen des neubabylonischen Reiches, der Griechen, Parther und Sassaniden geradezu exemplarisch nachweisen und als chronologisches Gerüst für weitere Forschungen verwenden. Und: es hätte sich wohl kaum ein anderer Archäologe mit vergleichbarem rastlosen Eifer auf diese Aufgabe gestürzt, deren gewaltiges Ausmaß zum Zeitpunkt des Entschlusses allerdings noch nicht absehbar war.
Unverzüglich beginnt Koldewey mit den Vorbereitungen. Eine Unmenge an Vorarbeiten ist notwendig, bei denen ihm die auf seinen bisherigen Ausgrabungen gesammelten Erfahrungen zugute kommen. zunächhst stellt er die Mannschaft zusammen: Dr. Bruno Meißner als Philologe, Walter Andrae als Architekt und als Betreuer in wirtschaftlichen und organisatorischen Dingen der Teppichhändler Ludwig Meyer. Mitten in die Vorbereitungen platzt am 12.Dezember 1898 die Ladung zu einer kaiserlichen Audienz. Wilhelm II., unter dem frischen Eindruck einer Orientreise, erteilt Koldewey den zusätzlichen Auftrag, die - vermeintlich phönizischen - Ruinen von Baalbek zu erkunden und fragt, wann er denn abreisen könne. Die Antwort des Archäologen ist legendär:
"Heute abend!"
Tatsächlich brechen er und der junge Architekt Andrae unverzüglich auf, der Rest der Mannschaft samt Material soll 4 Wochen später nachfolgen. Man reist nach Tries und geht dort an Bord der "Cleopatra" mit Zielrichtung Alexandria. Noch im Dezember erreicht man die berühmte Stadt. Andrae beschreibt in seinen Erinnerungen die Ankunft wie folgt:
"...bis auch Alexandria, die Weltstadt wie eine Fata Morgana aus der spiegelglatten See auftaucht, strichförmig wie die Wüste nur mit ein paar weißen Zacken, dem modernen Pharos und anderen Seezeichen. Strichdünne Molen nähern sich. Einzelne Fahrzeuge in grellbunter Bemalung liegen auf dem unbewegten silbrigen Hafenspiegel, der alles wiedergibt, was der Himmel droben musiziert. Von ferne tönt wirres Geräusch, nähert sich wie eine Wolke mitsamt den ersten Düften, einer Mischung von Teer, Öl, Braten, Bäckerei. Geräusch weniger von Maschinen als von Menschenmassen, als ob jeder Alexandriner schreien würde..."
Von hier aus geht es, teilweise in uralten Seelenverkäufern, nordwärts die Küste des heutigen Ägyptens, Israels und Libanons entlang. Über Port Said, Jaffa und Haifa erreicht man Beirut und vertraut sich dort der Zahnradbahn in Richtung Damaskus an, wo die Reisenden Weihnachten verbringen. Eine kurze Bahnfahrt bringt sie nach Baalbek, wo sie bei unangenehmer Witterung - Schnee, Regen, Wind und Sonne - Sondierungsgrabungen und eine vorläufige Planaufnahme durchführen. Koldeweys Freund Puchstein führt hier in den darauffolgenden Jahren eine ausgiebige Grabung durch.
Als sie nach Beirut zurückkehren erwartet sie bereits die inzwischen eingetroffenen Meißner und Meyer mit dem Gepäck. Ein kurzes Stück fahren sie noch entlang der Küste bis Alexandrette, heute Iskenderun, dann geht es ins Landesinnere in Richtung Aleppo. Für den jungen Andrae ist es eine faszinierende Reise in eine unbekannte Kultur:
"...für viele ist Aleppo die schönste, weil in sich geschlossenste Stadt des Orients gewesn. Auch nach ihrem Anschluß an das europäische Verkehrsnetz durch die Bagdadbahn, von der damals noch nicht einmal die Rede war, behielt der Stadtkern sein altes musemanisches Gesicht, und in den Bazaargassen, langen finsteren Gewölben, fand man die durchaus uneuropäischen Typen orientalischer völkerscharen in meist bgrüllender Handelsabwicklung begriffen...Den jungen Architekten zogen damals die jedoch mehr die schönen Mukarnas-Nischen, der sorgfältige Fugenschnitt der Moscheen und Bäder, Chan- und Festungsfronten an und die schlanken wohlgegliederten Steinminares und ihre zierlichen Holzaltane, die nachts durch feine Lichterketten illuminiert waren. In altorientalischen Epochen... ragt die sonderbare Burg von Aleppo hinauf, die letztlich weiter nichts anderes ist, als es der von Koldewey so gut bekannte Burghügel von Sendschirli war; nur erheblich größer und höher ragt sie über die flachen Dächer der Stadt und über alle Chane, Bäder und Moscheen hervor, oben mit vielen Türmen bewehrt, unten von einem tiefen Graben umzogen. Die steilen Böschungen sind mit großen Steinen abgepflastert und noch heuite unersteiglich...."
Der imposante Anblick der Burg von Aleppo hat sich bis in die Gegenwart erhalten.
Hier ereignen sich zwei Vorfälle, die fast das Ende der Expedition bedeuten: Koldewey und Andrae sterben fast an einer Kohlenmonoxidvergiftung, hervorgerufen durch die hier gebräuchlichen Zimmeröfen. Wenige Tage später stürzt Koldewey vom Pferd und verletzt sich so schwer am Kopf, daß eine Weiterreise zunächst fraglich erscheint. Er läßt sich allerdings nicht beeindrucken und besteht auf einer Fortsetzung, trotz der für ihn damit verbundenen Schmerzen.
Schließlich stellt man mit Hilfe des ortsansässigen deutschen Kaufmannes Karl Koch und seiner Frau Marha eine Karawane zusammen, die am 22.Januar nach Bagdad aufbricht. Bald empfängt sie die Euphratebene, die schnurgerade eine türkische Telepraphenlinie durchzieht, einziger Zeuge moderner Zivilisation.
"...das Land am Euphrat, durch das wir reisten, schien bis auf kurze und schmale Streifen so gottverlassen und unbewohnbar, daß der Gedanke daran, es könnte dort ein größeres Reich bestanden haben, gar nicht Fuß fassen wollte..."
Die letzte Etappe führt sie von Bagdad in das Dorf Koiwaresch am Fuße des Schuttgebirges von Babylon. Am 22.März 1899 bemerkt Andrae:
"...Endlich am Ziel! Dem Leiter und seinen Assistenten war doch eigenartig zumute, den Boden der uralten Kult- und Kulturstätte unter den Füßen zu haben, die wie mit einem großen Tuch bedeckt dalag. Wird man dasselbe lüften können? Was wird offenbar werden?..."
Vor den Ankömmlingen erstrecken sich Kasr, Amran, Ischin Aswad, Merkes etc. Außer diesen gewaltigen Hügeln, die aus der flachen Ebene aufragen, deutet nichts auf die Existenz des alten Babylon hin. Und doch ist dies die Stelle, von der die Bibel berichtet:
"Alle Welt hatte nur eine Sprache und diesselben Laute. Als man vom Osten her aufbrach, fand man im Lande Babylonien eine Ebene und wohnte daselbst. Sie sprachen zueinander: 'Wohlan, laßt uns Ziegel streichen und sie hart brennen!' Und es diente ihnen der Ziegel als Stein, und das Erdpech diente ihnen als Mörtel. Dann riefen sie: 'Auf, laßt uns einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reicht. Wir wollen uns einen Namen machen, damit wir nicht in alle Welt zerstreut werden.' Jahwe aber fuhr herab, um sich die Stadt und den Turm, den sich die Menschen erbaut hatten, anzuschauen. Jahwe sprach: 'Siehe, sie sind ein Volk, und dnur eine Sprache haben sie alle; das ist aber erst der Anfang ihres Tuns. Nichts von dem, was sie vorhaben, wird ihnen unmöglich sein. Wohlan, laßt uns hinabsteigen. Wir wollen dort ihre Sprache verwirren, daß keiner mehr die Rede des anderen versteht. Und Jahwe zerstreute sie von da aus über die ganze Erde hin; sie hörten mit dem Städtebau auf. Darum heißt die Stadt 'Babel', denn dort hat Jahwe die Sprache der ganzen Welt verwirrt, und von da aus hat er sie über die ganze Welt zerstreut." (1 Mose 11,1-9)
Hinter dieser Erzählung verbirgt sich wohl das ungläubige Erstaunen der Zeitgenossen über die schier unglaubliche Größe und das Völkergemisch der Hauptstadt des neubabylonischen Reiches. Dasselbe Erstaunen finden wir in den Berichten Herodots und hellenistischen Weltwunderlisten. Auch ohne Ausgrabungen war die Nachwelt über die Rolle der Metropole am Euphrat gut unterrichtet, die in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten allmählich dem Vergessen anheimfiel. Somit verschwanden auch die Berichte ihrer einstigen Größe und ihrer Bauwerke ins Land der Legende. Nur noch gelegentlich wird sie von Grabbräubern heimgesucht, ab dem 19.Jahrhundert finden gelegentliche Expeditionen den Weg. Es ist wohl dem politisch motivierten Wettstreit der europäischen Mächte um prestigeträchtige Ausgrabungen im ausgehenden 19.Jahrhundert zu verdanken, daß Babylon seinem Dornröschenschlaf entrissen wurde.
Doch zurück ins Jahr 1899! Die ersten Tage vergehen mit lästigen organisatorischen Arbeiten: man kauft ein Grundstück, gibt den Bau eines Grabungshauses in Auftrag, beschafft Arbeiter und erstellt - endlich! - einen vorläufigen Grabungsplan. Koldewey legt fest, daß, ungeachtet des anstrengenden Klimas, ganzjährig gearbeitet wird und bemerkt:
"...Spirituosen trinken wir nicht , um 9 gehen wir schlafen und um 5 stehen wir auf. Jeder von uns tut täglich einen etwa 3-stündigen Fundbeobachtungsdienst in der Grabung und sorgt dadurch für die zunahme seiner Ortskenntnisse, für ordnungsgemäßen Betrieb und für die der Gesundheit zuträgliche Bewegung in der Sonne, der man sich nicht zu lange entziehen soll..."
Besorgte Anfragen, ob er und seine Mannschaft sich nicht vielleicht zuviel zumuten, beantwortet er in übertriebenen optimistischen Schilderungen:
"...wegen unserer Gesundheit bitte ich, sich keine Sorge zu machen. Wir sind der Hitze und dem Klma bisher durch eine geeignete, allerdings auch sorgfältig überlegte Lebensführung mit bestem Erfolg entgegengetreten und haben bisher keine Ursache die Grabung auszusetzen: es wäre auch nicht rätlich, da wir uns in Kasr und Amran jetzt an Stellen befinden, die eine lange tätigkeit erfordern zur Beseitigung einer großen sterilen Schuttmasse. Außerdem liegen hier die Verhältnisse so, daß die Bagdader vielmehr zur Sommerfrische nach Babylon kommen, denn in Bagdad ist es unangenehmeer als hier, wo die freie Wüste näher herantritt..."
Aus den Bemerkungen wird bereits in ihrer ersten Phase die Problematik der Ausgrabung deutlich: das für Europäer nahezu mörderische Klima, der ungeheure Umfang der zu bewältigenden Arbeit, Schwierigkeiten mit den Einheimischen und nicht zuletzt, der Charakter Koldeweys.
Doch zunächst stehen die Ergebnisse der Kampagne im Vordergrund. Dabei erweist sich der Standort des Basislagers und des erst später fertiggestellten Grabungshauses als eine überaus glückliche Wahl.
Am Anfang steht die Vermessung der Hügel und die Erstellung eines Übersichtsplanes der Schuttgebirge. Danach beginnen an zuvor festgelegten Stellen die Sondierungsgrabungen. Bereits der erste Suchgraben in den Kasr ergibt die Struktur der Befestigung, der in der Antike als Weltwunder gerühmten mehrfachen Mauern von Babylon. Man stößt auf die Prozessionsstrasse mit Inschriften Nebuzkadnezars auf den Pflasterplatten.
Im Vorwort seines 1913 erschienen Berichtes "Das wiedererstehende Babylon" listet Koldewey die jährlich vollbrachte Arbeit auf: 1899, wie bereits erwähnt Prozessionstrasse und Nordmauern, 1900 das Zentrum der Hauptburg, der Tempel des Marduk und der Etemenanki, der "Turm zu Babel", 1901 der Ninib-Tempel, der Tempel der Ischtar und der Ninurta-Tempel, 1902 das Ischtar-Tor, weitere Tempel usw.usf.
Die Ausgräber durchstoßen Schicht um Schicht der in Jahrhunderten und Jahrtausenden angesammelten Ablagerungen. In einer Tiefe von ca. 20m stossen sie endlich auf den gewachsenen Boden. Der Abraum ist so gewaltig, daß er mit einer eigenen Bahn, deren Trasse auf einem Absatz in halber Höhe der Schnitte verläuft, abtransportiert werden muß. Bis zu 200 Arbeiter sind angestellt, müssen angeleitet und beaufsichtigt werden. Letzteres fällt nicht immer leicht:
"...Die Mauern mit ihren Ziegeln sind eben für die Leute hier so gut wie bares Geld, und keine Bewachung würde imstande sein, das Wegschleppen zu verhindern. Ich habe mir im Verein mit Herrn Konsul Richarz, respektive der Deutschen Botschaft in Konstantinopel große Mühe gegeben, die Beraubung des Hügels Babil zu insistieren, aber es ist mir bisher nicht recht gelungen; nur die von der türkischen Regierung nicht konzessionierten Räuber dürfen jetzt nicht mehr dort arbeiten..."
Doch die türkische Regierung ist weit und die Ausgräber sind auf die Zusammenarbeit mit örtlichen Regierungsstellen, lokalen Scheichs und nicht zuletzt auf Eigeninitiative angewiesen. Ständig kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen verschiedener Stämme oder Familien, ja zu Schießereien:
"...Diese Schießereien sind eine rechte Kalamität...Unserem Postreiter Muhtar, der die Gegend 2x die Woche passiert, fliegen jedesmal ein paar Kugeln um die Ohren; eine ist ihm durch die Hemdfalte vor der Brust gegangen; ein Begleiter von ihm erhielt eine Kugel durch die Schulter. Auch Herr Andrae hatte auf seinem Weg nach Fara ähnliche Schwierigkeiten...."
Koldewey beweist bei mehr als einer Gelegenheit eine bemerkenswerte Kaltblütigkeit und Souveränität im Umgang mit der Bevölkerung. Einzelne Episoden erinnern geradezu an die Abenteuergeschichten Karl Mays. Einmal wird er beispielsweise von einem Araber, der ihn nicht erkennt, mit einem Säbel angegriffen. Es gelingt Koldewey im Verein mit einigen Arbeitern, diesen Angriff unbeschadet abzuwehren und der Araber ergreift die Flucht. Da er nun nach einheimischem Brauch einen derartigen Angriff nicht auf sich beruhen lassen kann, zitiert er den Scheich, sprich den Familienvorstand, der gleichzeitig für seine Angehörigen die Verantwortung trägt, zu sich. Als dieser in Begleitung seines Anhangs voll schlechten Gewissens erscheint, läßt er ihn warten und behandelt ihn überaus abweisend und herablassend. Er droht ihm mit Verfolgung durch die staatlichen Behörden, Entlassung seiner Arbeiter von der Grabung, und - schlimmer noch - mit allgemeiner Ächtung, falls er ihm den Übeltäter nicht ausliefere. Nach zähen Verhandlungen, bei denen Koldewey teilweise nur mit Mühe den Ernst bewahren kann, unterwirft sich der Scheich und wird der Übeltäter ausgeliefert.
Dabei gehen die Arbeiten zügig voran, es werden sogar zusätzliche Erkundungen und Vorarbeiten für Grabungen in der weiteren Umgebung durchgeführt: Borsippa, Fara, Abu Hatab und Assur. Letzteres wir ab 1903 von Andrae, der die Grabung in Babylon verlässt, erforscht.
1903 geht auch die erste Ladung der geborgenen Fundstücke, 400 sorgfältig mit Hunderttausender von Ziegelbruchstücken gefüllt Kisten nach Berlin. Es sollte jedoch noch Jahre, nämlich bis 1931, dauern, bis diese ausgepackt, restauriert und in mühsamer Kleinarbeit wieder zusammengesetzt werden konnten. Durch den Transport, die lange Lagerung und mehrfache Umzüge war die mühsame Vorarbeit der Archäologen nahezu vernichtet worden.
In Babylon fordert die unausgesetzte Arbeit von Koldewey ihren Tribut. Im Jahre 1904 erkrankt er so schwer, daß er mit dem Tod rechnet. Doch auch in dieser Situation verliert er nicht seinen mehr und mehr zum Sarkasmus tendierenden Humor:
"...Im April 1904 fühlte Koldewey sich so krank, da er Bestimmungen über sein Begräbnis traf, und zwar in einer starken Wand des Nordkasr, mit Zement auszugießen! Gewiß war das nicht nur ein Scherz!..."
Auf Anraten seiner Freunde nimmt er nun, nach 5 Jahren!, seinen ersten Urlaub und kehrt zurück in die Heimat, wo er freudig empfangen wird und zahlreiche Ehrungen erhält. In diesem Zeitraum setzt eine von manchen Zeitzeugen als tragisch bezeichnete Veränderung bei Koldewey ein. Vielleicht gibt eine als persönlich empfundene Niederlage in einer seitens Koldeweys überaus hart geführten Diskussion um die Mauern Babylons den Ausschlag, jedenfalls verstärken sich seine geradezu selbstzerstörerischen Neigungen:
"...Mit sich selbst machte er gelegentlich Experimente, die uns einigermaßen gesundheitsgefährlich vorkamen. So probierte er aus, wieviel Tabak er ohne merkliche Ffolgen rauchen könne und steigerte täglich das Quantum, das er auf einer Briefwaage abwog, bis er eines Tages erklärte, nun gehe es nicht weiter. Er habe Schwidelanfälle und Sehstörungen. Dann hörte er auf zu rauchen und litt zunächst unter der Entbehrung. Die gleichen Experimente führte er mit Raki durch und war stolz darauf, welches Quantum er vertragen konnte. Auch dieses alkoholische Experiment brach er nach einer bestimmten Frist ab, um dann ein halbes Jahr völlig abstinent zu leben..."
Um die Herrschaft seines Geistes über den Körper zu beweisen, trug er im Sommer Winterkleidung, im Winter leichte Sommeranzüge und schlief bis in die kalte Jahreszeit auf dem Dach des Grabungshauses in einem angefeuchteten Bett. Ein Ekzem behandelte er selbst mit Benzin und einem Messer, bis als Folge seiner Selbstbehandlung das Ekzem auf den ganzen Körper übergriff. Trotzdem er über in ausgiebiger Lektüre angeeignete medizinische Kenntnisse verfügte, die selbst Ärzte erstaunten, ließ er sich wieder und wieder zu solch nicht anders als unvernünftig zu bezeichnenden Experimenten hinreissen.
Die Folge war, nicht weiter erstaunlich, ein sich mehr und mehr verschlechternder allgemeiner Gesundheitszustand. Trotzdem sollte Koldewey die Ausgrabung bis zu ihrer Einstellung 1917 betreuen. Inzwischern hatte er Berühmtheit in aller Welt erlangt. Besucher strömten nach Babylon: Kollegen der benachbarten englischen und französischen Ausgrabungen, Forschungsreisende oder auch nur einfache Touristen wie die eingangs genannten.
Die folgenden Jahre brachten nicht mehr die aufregenden Ergebnisse der ersten Zeit, es stellte sich die auf jeder Grabung nach gewisser Zeit zu beobachtende Routine, ja Eintönigkeit ein.
Als im Jahre 1914 der erste Weltkrieg ausbrach, wurde ein Gros der deutschen Grabungsmannschaft zum Militärdienst einberufen, Koldewey jedoch blieb in Babylon, aus dem er 1917 von General Großmann vor den anrückenden Engländern in Sicherheit und nach Bagdad gebracht wurde. Sein Kommentar über die Evakuierung:
"...Andrerwärts würde man das Unordnung nennen, im Krieg ist das aber wohl eine Ordnung..."
Über Aleppo, das er 19 Jahre zuvor auf dem Weg nach Babylon passiert hatte, kehrte er nach Berlin zurück. Für vier Jahre bekleidete er hier eine Stelle als Kustos für auswärtige Angelegenheiten an den Berliner Museen, bis ihn sein sich verschlechternder Gesundheitszustand und sein Alter 1921 zur Pensionierung zwangen. Am 4.Februar 1925 ist Robert Koldewey nach langer Krankheit gestorben.
Die beeindruckenden Resultate seiner Grabung sind heute in der Vorderasiatischen Sammlung auf der Berliner Museumsinsel zu besichtigen. Steht man vor dem wiedererstellten Ischtartor und dem Thronsaal mit ihrem fantastischen Schmuck, so lassen sich die Mühen der Ausgrabung wenigstens ansatzweise erahnen.
Das alte Babylon spielt im heutigen Irak eine befremdliche Rolle:
Leider ist die Besichtigung durch die aktuelle politische Situation erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Nicht einmal die durch den Golfkrieg verursachten Schäden sind bekannt.
© Dirk Bennett 2003