Artemisia, Rogier und die Sikhs


Artemisia, Artemisia, Artemisia. Es ist so eine Sache mit der berühmten Pisanerin, oder sollte es heissen Pisa-erin? Gleichgültig - weibliche Künstler sind heutzutage jedenfalls der letzte Schrei, und je weiter in der Geschichte zurückliegend, desto besser. Und da im Ganzen nur eine Handvoll Malerinnen von ertragbarer Qualität bekannt sind, konzentriert sich im Bereich der Altmeister das - durch die Dramatik ihres Privatlebens noch gesteigerte (oder erst hervorgerufene?) - Interesse auf die Caravaggio-Schülerin aus Pisa. Es soll nun an dieser Stelle keineswegs die Sonderstellung der Signorina Gentileschi bestritten werden. Alle Neuauslegung der Kunstgeschichte zeigt andrerseits aber nur, dass, aus den inzwischen tausendfach bekannten Gründen, weibliche Künstler eben die Ausnahme blieben. Dass in der Folge jeglicher mittelmässige Versuch aus dieser Ecke zu einem monumentalen künstlerischen Ereignis hochstilsiert wird, ist jedoch bedauernswert und abhängig von einer gerade vorherrschenden Mode. Und so wartet die Kunstgeschichte noch immer auf die Inspiration eines weiblichen Leonardo, Dürer oder Michelangelo. Und verschliesst gleichzeitig die Augen vor gleichwertigen, und (zumindest zu ihren Lebzeiten) bekannteren und erfolgreicheren Künstlern. Was natürlich auch als eine Art historisch ausgleichende Gerechtigkeit ausgelegt werden könnte.
London, 9.Januar 1629. Zwei heissblütige Südländer treffen samt Anhang aufeinander, und bekommen sich zum Gaudium, oder Erstaunen eines vermutlich mit hochgezogenen Brauen beobachtenden Publikums heftigst in die Haare. Aus dem Munde des Augenzeugen klingt das dann wie folgt: "Julio, mein Sohn, verabredet für 6 Uhr abends einen Freund zu treffen, begegnete am Strand Mr Gerbier, und sie verfielen in gegenseitige Beschimpfungen, und es soll nicht abgestritten werden, dass, nachdem einige verletzende Worte ausgetauscht worden waren, mein schlechtberatener Sohn Julio ihn mit dem in der Scheide befindlichen Schwert über den Kopf hieb. Worauf diese zerbrach und John Bous, Diener des Mr Gerbier, des Schwertes habhaft wurde und während er es den Händen meines Sohnes zu entringen suchte, sich in die Finger schnitt. Worauf Gerbier und sein Mann ein Geschrei erhoben, und eine Vielzahl von Leuten zusammenliefen, und mein Sohn sich veranlasst sah, sein Schwert zu zurücklassen und sich zu entfernen."
Beteiligte waren die Hofmaler Gerbier und der Vater obengenannter Artemisia, Orazio Gentileschi. Ursache und Anlass sind die nicht endenwollenden Eifersüchteleien zwischen den englischen Hofmalern Gebert und dem nach ihm eingetroffenen Orazio Gentileschi. Der Hof Charles des I. in der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts ähnelt in künstlerischer Hinsicht ein wenig der heutigen englischen Premier League. Mehr oder weniger abgewirtschaftete kontinentale Grossen, von einer Handvoll Ausnahmen einmal abgesehen, werden mit hohen finanziellen Verlockungen auf die Insel gelockt und beschliessen ihren künstlerischen Lebensabend in relativer Sicherheit. Gentileschis Ruhm als wenn nicht der bedeutendste, so doch eleganteste Caravacchio-Schüler war zu jener Zeit längst europaweit etabliert. Im Rahmen obengenannter Fehde wurde von Hand seiner Widersacher auch eine Liste der von ihm für seine Auftraggeber angefertigten Gemälde zirkuliert. Die Absicht ist leicht durchschaubar, in diesem Zusammenhang jedoch nur insoweit interessant, als sie Aufschluss über sein Wirken während seiner letzten Lebensjahre am englischen Hof gibt, und gleichzeitig als Basis der kleinen Ausstellung in der NG dient. Was gleichzeitig den Betrachter etwas in die Irre führt, da lediglich ein Ausschnitt seines Schaffens dargestellt wird, nämlich seine Spätwerke, die die der Dynamik seiner früheren Werke am Ubergang vom Mannierismus zum Barock zugunsten hofischer Eleganz abgelegt haben.
Die Ausstellung wirft gleichzeitig ein faszinierendes Licht auf eine prägende Epoche englischer (Kunst-)Geschichte. Es handelt sich nämlich um den letzten und letztendlich gescheiterten Versuch, Barock und Katholizismus in England zu etablieren. Der dem Tod Gentileschis fast unmittelbar folgende Bürgerkrieg fegte diesen Einfluss endgültig hinweg, und zwar so gründlich, dass man seitdem Kontinent, Katholizismus, Barock mit fast schon sprichwortlicher Reserviertheit entgegentritt.
Man mag über den Wert derartiger Mini-Präsentationen geteilter Meinung sein, im Zeitalter der kürzerwerdenden Aufmerksamkeitsspanne darf man den Organisatoren jedoch zumindest konstatieren, den Finger am Puls der Zeit zu haben. Und so findet einige Räume weiter eine weitere kleine Ausstellung für einen der wahrhaft Grossen statt, Rogier van der Weyden. Der Werkkatalog des von seinen Zeitgenossen mit Superlativen überhäuften Meisters ist leider nur fragmentarisch erhalten. Den Organisatoren ist es jedoch gelungen, Stücke aus Museen weltweit zu vereinigen und somit beispielsweise eines seiner bedeutendsten Werke, die "Jungfrau mit dem Kind und sechs Heiligen", ursprünglich vermutlich ein Altarstück, zu rekonstruieren. Anhand von Detailuntersuchungen wird ein häufig vernachlässigter Aspekt in der Erforschung spätmittelalterlicher Malwerkstätten verdeutlicht. Was nämlich heutzutage immer noch ganz im Sinne historistischer Kunstauffassung dem genialisch und solipsistisch vor sich hin schaffenden/kreierenden Künstler zugeschrieben (oder in die Schuhe geschoben) wird, stellt sich bei genauer Betrachtung als das Gemeinschaftswerk einer in strenger Arbeitsteilung organisierten Werkstätte heraus - das mittelalterliche Studio als Kunstfabrik, wie dies einer breiten deutschen Offentlichkeit erstmals bei der Cranach-Ausstellung von 1992 in Kronach so einleuchtend vorgestellt wurde.
Gleichzeitig mit dem Wirken van der Weydens, jedoch durch eine Welt getrennt, nimmt in Indien die Entstehung einer neuen Religion ihren Ausgang, für die nach jahrhundertelangem Wirken im Untergrund das Jahr 1699 ihr Jahr Null bedeuten sollte. Die Sikhs, in Europa wenig bekannt, werden im Allgemeinen - und fälschlicherweise! - mit dem indischen Kastensystem in einen Topf geworfen. Darüber hinaus assoziert man sie allenfalls noch mit dem Goldenen Tempel oder der Ermordung der indischen Ministerpräsidentin. Die hier gezeigten Gemälde, Trachtbestandteile, Waffen, Manuskripte usw. vermitteln jedoch das ein lebhafte Bild einer Gemeinschaft, die sich in ihrer Ablehnung des Kastenwesens, Betonung von Emanzipation und tätiger Nächstenliebe von sämtlichen Religionen des Subkontinets unterscheidet.
So interessant die Ausstellung auch ist, sie hat jedoch ihre unübersehbaren Mängel. Da ist einmal das Offensichtliche, nämlich das bequeme Übergehen aus britischer Sicht historisch unbequemer Ereignisse, wie z.B. das Massaker von Amritsar, im Bewusstsein der Sikhs noch heute fest verankert; oder die reichlich unkritische Behandlung der häufig mehr als dubiosen Rolle, die das Empire in der Geschichte Indiens spielte - vorhergehende Herrscher und Herrschaftssyteme werden demgegenüber durchaus kritisch bedacht! Und andrerseits wirkt die Schau stellenweise unorganisiert, uninspiriert, lieblos, so als habe man als Ausgangspunkt ein Thema, zehn Räume, und einen Haufen von Juwelen, Rüstungen und Manuskripten, Gemälden und Fotografien gehabt.

Rogier van der Weyden, NG, 18.3-4.7.1999, Eintritt frei, kein Katalog (Begleitbroschüre £1.50)
Orazio Gentileschi am Hof Charles I., NG, 3.3-23.5.1999, Eintritt frei, Kat. £9.99, hrsg. Von Gabriele Finaldi, Eigenverlag der NG London, Museo de Bellas Artes, Bilbao & Museo del Prado Madrid, 115S., farbige Abb.
Die Künste in den Konigreichen der Sikh, V&A, 25.3-25.7., Eintritt £5, Kat. £19.95, hrsg. S. Strong


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