Ungewohnt zahm





":…'Ja Oliver' sagte Mr Bumble. "Die ehrenwerten Gentlemen, Gott schütze sie, die wie Eltern für Dich sind, Oliver, wo Du doch keine eigenen hast; sie werden Dich in die Lehre geben; und für Deine Zukunft Sorge tragen; und einen Mann aus Dir machen; und das obwohl die Gemeinde 3 Pfund zehn an Auslagen dafür hat! 3 Pfund zehn, Oliver! Das sind 70 Schilling; sind 140 Sixpence! Und das alles für einen nichtsnützigen Waisen für den niemand Liebe empfinden kann…" (C.Dickens, Oliver Twist, 1839)
Mr Bumble ist der Pedell jenes Waisenhauses in dem Charles Dickens' "Oliver Twist" seine ersten Lebensjahre verbringt. Von 1837-1839 lebte der Autor in Doughty Street - das Haus beherbergt heute ein Museum - unweit jener Institution, die er auf seinen Spaziergängen nördlich von Bloomsbury gelegentlich passiert haben mag, das "Foundling Hospital", ein ziemlich genau einhundert Jahre zuvor gegründetes Heim für Findelkinder. Es ist nicht zu belegen, ob oder inwieweit es ihm Inspiration oder Anstoss gegeben haben mag, es ist aber ein Hinweis auf die sozialen Verhältnisse in London bis weit ins 20.Jahrhundert. Bis vor wenigen Jahrzehnten noch waren die Londoner Slums Realität, ihre Strassen von Lumpenkindern bevölkerten, das Bild vom "Cockney" oder "Geezer" weit mehr romantisierendes Wunschdenken als Spiegelbild der Realität. Das Barbican Centre beispielsweise "verdankt" seine Errichtung den Zerstörungen der dortigen Slums im 2.Weltkrieg. Egon Erwin Kisch hat bei seinen Besuchen das Elend des Londoner Eastend in bewegenden Reportagen geschildert. Oder man werfe nur einen kurzen Blick in Peter Ackroyds 2001 erschienene Biografie, um ein Bild zu bekommen von dem rauhen Leben in den Londoner Strassen des 17. 18. und 19.Jahrhunderts - das heuitge Bermondsey, Southwark oder Tower Hamlets sind nur noch ein müder Abklatsch jener Viertel, gottseidank.
Wenigen Kindern war es vergönnt Unterschlupf in einem Waisenhaus zu finden, und weitaus mehr landeten in Anstalten vom Schlage jener von Dickens beschriebenen. Thomas Corams Foundling Hospital war eher eine Ausnahme, und das in mehr als einer Beziehung. Zum einen war da die richtungsweisende Fürsorge und Vorberreitung der Kinder auf ihr zukünftiges Leben - für damalige Zeiten wohlbemerkt, das alltägliche Regime dürfte aus heutiger Sicht immer noch recht trist und "mittelalterlich" gewesen sein. Und zum anderen war da jenes modern anmutende Marketing- und PR-Strategie, wenn auch aus der Not geboren. Vom Sozialstaat, selbst in seiner reduzierten britischen Spielform des 21.Jahrhunderts war im 18.Jahrhundert nichts zu verspüren. Wohltätigkeit war Privatsache. Um also die Finanzierung der Anstalt zu gewährleisten klügelte einer seiner ersten "Governors", der Maler William Hogarth, ein richtungsweisendes System von Wohltätigkeit und Kunstförderung aus. Bekannte, und weniger bekannte Künstler wurden eingeladen, zu Vernisagen, Ausstellungen undAufführungen beizutragen. Die eingenommenen Spenden kamen der Einrichtuing zugute. Seine konstruktive, karitative Seite im Vergleich ist heute hinter seiner Rolle als gnadenloser Karikaturist und Ankläger sozialer Misstände zu Unrecht in den Hintergrund getreten.
Ein Effekt war die Entstehung einer Kunstsammlung, der ersten englischen Galerie, die in dieser Art und ihrem Umfeld einmalig ist. Zusätzlich wurde das Foundling Hospital im Verlaufe des Jahrhunderts eine der Geburtsstätten der Idee einer Akademie zur Förderung der britischen Künste, der späteren Royal Academy of Arts.
Es dürfte weniger bekannt sein, dass sich - wieder einmal - eine deutsche Verbindung hestellen lässt. Die von ihm initiierte Politik wurde nämlich speziell von einem seiner Nachfolger, dem Komponisten Georg Friedrich Händel weitergeführt. Die Aufführungen des "Messias" gehörten zum festen Bestandteil des alljährlichen Societykalenders. Er hat sie bis zu seiner Erblindung im Jahr 1751 selbst geleitet, und in seinem Testament das Waisenhaus grosszügig bedacht.
Das Foundling Hospital stand bis in die 20-er Jahre hier am Brunswick Square, bis die zunehmende Luftverschmutzung - und man darf vermuten Grundstückspreise - den Umzug aufs Land erzwangen. Das alte Gebäude von Theodore Jacobsen wurde abgerissen, und ein ein neuer, kleinerer Bau als Verwaltungsgebäude der nunmehrigen neuetablierten Corma Family-Stiftung errichtet. Teile der vormaligen Anlage blieben erhalten und wurden in das neue Gebäude integriert. Nach der Auflösung der Waisenhäuser und Reorganisation der Stiftung in den 50er Jahren verdämmerte das Haus und seine Sammlung zunehmend vernachlässigt am Brunswick Square - bis in den Juni diesen Jahres, als es nach längeren Restaurierungsarbeiten wiedereröffnet wurde.
Ganz modern didaktisch und gar nicht trocken präsentiert das Erdgeschoss im ersten Raum die Entstehungsgeschichtre des Museums. Eine Tafel an einem Ende des Raumes listet die Namen der Kinder, die über die Jahrhundert hier Aufnahme fanden. Ein kleine Vitrine zeigt die Erinnerungsstücke, kleine Anhänger, die die Mütter ihren Kindern als Erkennungszeichen mitgaben, vielleicht in der Hoffnung sie irgendwann einmal wieder nach Hause holen zu können.
In einer Ecke ist ein Stadtplan London aus seiner Gründungszeit über den mit der heutigen Ausbreitung projiziert. Fasziniert stellt der Besucher fest, dass der heute im Zentrum liegende und dicht bebaute Stadtteil des Museums damals grüne, hügelige Landschaft war. Hogarths 'Der Marsch der Wachmannschaft nach Finchley" im nächsten Raum, dem (originalen) Kommitteeraum, zeigt dann auch den Blick von Tottenham Cort Circus über die grünen Felder auf die Hügel von Hampstead und Highgate, damals weit vor den Toren der Stadt gelegen.
Der erste Stock beherbergt die Picture Gallery, eine Replik des ursprünglichen Raums, und den Court Room - das aus dem Jacobsengebäude herübergerettete Original und ein ganz ungewohntes Beispiel englischen Barocks, nicht ganz so exuberant wie vielleicht im katholischen Kontinentaleuropas, aber komplett mit Rocaillen und stuckierten Blumengirlanden und prachtvollen Spiegeln und Gemälden in vergoldeten Rahmen auf moosgrünem Grund.
Der alte Zyniker Hogarth ist mit etlichen Werken vertreten und zeigt sich hier ganz ungewohnt, gelegentlich gar zahm. In der Gemäldegalerie beispielsweise hängt sein grossformatiges Gemälde des Begründers des Waisenhauses, Thomas Coram. Es ist ein wenig geschmeichelhaftes aber durchaus warmherziges Porträt. Untersetzt, das rotwangige Gesicht von einem Nimbus ungezähmten (und ganz unmodisch eigenen) Haares umgeben, und offensichtlich ein wenig verlegen ob all der Aufmerksamkeit, blickt der Ex-Kapitän auf den Betrachter. Seine Körperhaltung ist jedenfalls nicht weltmännisch-elegant wie die der ihn umgebenden Society-Gentlemen, denen - hat sich da viel verändert? - Philanthropie guter Ton aber nicht Herzensangelegenheit war.
Im Obergeschoss, das Georg Friedrich Händels Zeit als Direktor des Hospitals gewidmet ist, haben sich die Museumsmacher etwas Besonderes einfallen lassen, die sogenannten "Musical chairs"; ein Wortspiel im Englischen, das ständigen Wechsel bedeutet, und in etwa zu übertragen ist als die "Reise nach Jerusalem". Auf gut deutsch, ein "musical chair' ist ein Möbel, das besetzt ist von ständig wechselnden vier Buchstaben. In diesem Fall sind es Ohrensessel, in deren Ohren kleine Lautsprecher eingebaut sind. Bequem zrückgelehnt kann hier der Besucher die Zeugnisse der Händelzeit begutachten oder sich einfach barockem Musikgenuss hingeben.
Auf faszinierende Weise gelingt es diesem Museum die Verknüpfung zwischen Kommerz und Wohltätigkeit, zwischen Sozial- und Kunstgeschichte zu verdeutlichen. Besuch empfohlen!


The Foundling Museum, 40 Brunswick Square, London WC1N 1AZ; Dienstag-Samstag 10-18:00, Sonntag 12-18:00; Eintritt £5, Kinder gratis; Führer von K.Wedd, 80 S., zahlreiche farbige Abb. £5.99; Webseite www.coram.org.uk/heritage.htm.

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© Dirk Bennett 2003