Des Kaisers neue Kleider


John Constable (1776-1837) gilt als einer der Grossen des 19.Jahrhunderts. In einer für den "Kontinent" einmaligen Schau im Grand Palais in Paris kann sich der Besucher ein umfassendes Bild des Oeuvre des englischen Eigenbrötlers machen, der, zu seinen Lebzeiten wenig erfolgreich von den Impressionisten hochgeschätzt und, gemeinsam mit seinem (erfolgreicheren) Zeitgenossen Turner, als ihr eigentlicher Vorläufer und Wegbereiter gesehen wird.
Das pure Gegenteil des weitgereisten, weltoffenenen Künstlers verbrachte er sein Leben in Südengland. Es verschlug ihn nie weiter als nach Suffolk, oder das damals noch ländliche, nördlich Londons gelegene Hampstead und das mittelalterliche Salisbury. Seine Heimatnähe hat er selbst am besten beschrieben, "... Das Geräusch von Wasser, das den Mühlenwerken entweicht, Weiden, alte, vor sich hinrottende Pfosten und Mauerwerk, ich liebe diese Dinge. Sie haben mich zum Maler gemacht ..." Tatsächlich gibt es kaum einen Maler, der die englische Landschaft in ihrem Wesen und ihrem ganz speziellen Licht, ihrer eigenen Atmosphäre besser getroffen hat. In seinen Bildern lässt es sich noch heute erkennen, mit seinen fahlblauen Himmeln, stets eine Wolke am Firmament, ein Schauer am Horizont. Was jedoch nach zunächst nach (geradezu deutscher) Naturseeligkeit und Sehnsuchstduselei klingt, ist nur teilweise romantische Grundhaltung. Revolutionär für seine Zeit, verbringt er lange Nachmittage im Freien, skizzert Wolkenbildungen, fertigt Landschaftsstudien an, zeichnet die Blätter von Bäumen - am Eingang der Ausstellung steht als ein Beispiel das fantastische Aquarell eines Baumstammes - und folgt so seinem Ideal, die Natur so realistisch und objektiv wie möglich abzubilden. Gezielt befreit er seine Bilder vom mythologischen Ballast des 18.Jahrhunderts wie er noch in vielen Werken seiner Zeitgenossen weiterlebt, bricht mit den sorgsam arrangierten klassizistischen arkadischen Landschaften, verschliesst sich aber auch fashionablen biedermeierlich-gemütlichen Tendenzen, und weist somit weit in die Zukunft der Malerei des 19.Jahrhunderts. Er ist ein eigenbrötlerischer Charakter, der verbissen, arrogant und selbstbewusst seinen eigenen Stil verfolgt. Man mag vermuten, dass es auch dieses kompromisslose Beharren auf Realismus ist, das Grund für seine Spezialisierung ist und das ihm ein Nebeneinkommen in Form der Porträtmalerei verbaut, zu kompromisslos ungeschmeichelt malt er, was er sieht - die Porträts der Familie Bridges, die Barker Kinder der Whitmores oder Masons, die er zu Anfang seiner Karriere noch anfertigt, sind wahrlich keine Galerie der Schönheiten der zeitgenössischen englischen Gesellschaft.
Die derzeit im Grand Palaias stattfindende Werkschau ist eine langerwartete Ausstellung und einmalig für den Kontinent. Fast 200 Werke, Zeichnungen, Aquarelle und grossformatige Gemälde, verteilen sich über zwei Stockwerke in den Galeries Nationales.
Es ist eine Schau, die zwiespältig stimmt, die sowohl begeistert aber auch zutiefst verärgert. Sie begeistert aufgrund der Tatsache, dass hiermit erstmals einem kontinentalen Publikum die Möglichkeit der Ansicht eines wesentlichen Teils des Gesamtwerks eines der einflussreichsten Künstler des 19.Jahrhunderts gegeben wird - eine eigentlich erstaunliche Tatsache angesichts des ihm zuerkannten Ranges. Angesichts der Präsentation muss sich jedoch die Frage nach der Rolle einer Ausstellung, und nach der Aufgabe der Kuratoren stellen. Darf man von einer derartigen Ausstellung nicht mehr erwarten als die kommentarlose Aneinanderreihung von Werken? Darüber hinaus grenzt eine Schau die sich als von einem der wesentlichen Gegenwartskünstler zusammengestellt geriert, jedoch nichts anderes bietet als eine halbwegs chronologische Werkschau unter anderer Überschrift, dabei mit mangelhafter Erläuterung und Erklärung versehen, an Etikettenschwindel. Dem Titel zufolge und in der Publizität wirksam hervorgehobenen habe sich nämlich Lucian Freud hier erstmals bereit erklärt eine Ausstellung, in Homage eines Grossen an einen anderen, mitzugestalten. (Der Unterschied Constables zu Freud ist im Übrigen erwähnenswert: der eine zu Lebzeiten gefeiert hatte der andere zu Lebzeiten um Anerkennung zu kämpfen.)
Die Beweggründe für die Auswahl der Werke bleiben jedoch völlig unklar und nicht nachvollziehbar, bestenfalls lassen sich Vermutungen darüber anstellen. Umgekehrt wird auch ein möglicher Einfluss Constables auf das Werk Freuds nirgends erläutert. Könnten es beispielsweise die gnadenlos realistischen, gelegentlich fast grotesken Porträts Constables sein, die Laien vermutlich weniger bekannt sind, und die, ein grosses Verdienst dieser Austellung, hier in Verein mit seinen Landschaften gezeigt werden? Oder spiegelt der Versuch der Widergabe innerer Landschaften unter der Oberfläche jener bekannt ungeschminkten, auf ihre Art somit Constableschen Forderungen nach folgenden Freudschen Porträts das Bestreben Constables wider, in seinen Gemälden die Natur so abzubilden wie sie ist, ohne Schnörkel oder Interpretation. Oder darf man die Parallele eher in einer gewissen Seelenverwandschaft zwischen dem kompromisslosen Einzelgänger und dem sich eigenen Aussagen zufolge wenig um die Publikumreaktion scherenden Enkel des Seelendoktors vermuten - in einer BBC Sendung sprach er jüngst über sein "... dislike of using professional models and his lack of interest in the response of his audience ..."
Sei dem wie es sei, Ausführungen und Erläuterungen finden sich, eine kurze Einführung ausgenommen - endlich! - am Ausgang. Was bleibt dem Publikum nun, nach zwei Stunden intensiver Betrachtung zurückeilen an den Anfang, sich anhand des nun Gelernten der Ausstellung mit geänderter Sichtweise zuzuwenden? Oder sich gleich gefälligst besser vorbereitet in die Schau zu begeben? Es ergibt sich das zusätzliche Problem, dass das Gezeigte eher auf den Experten - sei es Freud oder Constable - zugeschnitten scheint als dem Verständnis des interessierten Laien dient.
Die Schau, organisiert von William Feaver und Olivier Mesley, folgt somit einem Trends zeitgenössischer stark marketingorientierter Ausstellungskonzepte, symptomatisch für die frühen 2000er, die den Ausstellungsbesucher bedenklich stimmen muss, dem mindestens ebenso viel an Inhalt und Information wie an der Präsentation liegt. So ist es symptomatisch, dass den Ausstellungsarchitekten in der Begleitdokumentation gleicher Rang wie den Kuratoren eingeräumt wird. Es erinnert ein wenig an die von Modejournalen vor einigen Zeit verfolgte Mode ihre Ausgaben von massgeblichen oder augenblicklich für en vogue gehaltenen Gegenwartskünstlern oder -designern gestalten zu lassen. Das Ergebnis war dann immerhin solange eine erhöhte Nachfrage, bis sich herausstellte, dass sich am grundlegenden Konzept der Hefte rein gar nichts geändert hatte.
Überspitzt formuliert, und allen vollmundigen Erklärungen von Seiten der zwei Organisatoren, British Council und Galeries Nationales, zum Trotz lässt sich somit der Eindruck einer zynischen, selbstgefälligen und bequemen Schau nicht verhehlen. Als Einführung ins Werk Constables ungenügend, als Demonstration des Einflusses Constables auf das Werk Lucian Freuds ungeeignet, stellt sich am Ende erneut die zuvor gestellte Frage nach dem Konzept der Schau - was ohne jeglichen Einfluss auf ihren Publikumserfolg sein wird.
Constable. La choix de Freud, Galeries Nationales du Grand Palais Paris, bis 13.Januar, Eintritt 9,10 Euro, Katalog: John Cage, Anne Lyles, Linda Whiteley, Oliver Mesley, éditions RMN, 280 S., 45 Euro.

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© Dirk Bennett 2003