Passt die Form
Am Anfang steht eine jener so beliebten, faszinierenden … und nur gelegentlich oder mit Abstrichen wahren Legenden. Es ist das Jahr 1988 und Paul Warwick Thompson, damals junger Kurator am Design Museum in London entdeckt beim Herumstöbern auf einem der zahlreichen Kunstmärkte - oder nach Präferenzzu ersetzen mit Auktion, Speicher, oder Wohnungsauflöung - einen Suppenlöffel. Der Stil scheint eindeutig, die Zuschreibung ist ebenso rasch - Bauhaus oder Umkreis, 20er Jahre - und wie sich zeigt, übereilt. Denn weitere Recherchen ergeben, dass es sich um ein wesentlich älteres Objekt handelt. Die Entwürfe stammen von einem unbekannten viktorianischen Designer, Christopher Dresser. Sie sind somit ein gutes halbes Jahrhundert älter als ursprünglich angenommen. Angesichts der zwischenzeitlich bekanntgewordenen und in der Ausstellung versammelten Teekannen, Vasen und anderer Alltagsgegenstände verwundert dieser Irrtum allerdings kaum, so modern und von schlichter Eleganz ist ihr Design - so modern im Übrigen, dass manche seiner Entwürfe heute eine Neuauflage (z.B. bei Alessi) erleben. Muss die Geschichte des modernen Designs umgeschrieben werden?
Genauer betrachtet ist die ganze Sache mit der Wiederentdeckung jedoch nicht ganz so einfach. Bereits Nicolas Pevsner, zwangsemigriert aus Österreich, kunsthistorischer Guru und Autor des "Dehios" zu den Kunstdenkmälern Englands, hatte bereits in den 40er Jahren viel zur Rehabilitierung, Dressers zumindest in britischen Fachkreisen beigetragen. Es dauerte allerdings noch etliche Jahrzehnte - nicht weiter verwunderlich, haben doch nicht einmal Bauhaus, De Stijl, Wiener Sezession seinerzeit und in der Folge tiefere Spuren hinterlassen -und erst seit den zunehmend designbewussten späten 80er und 90er Jahren ist er wieder ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt.
Dresser ist ein typisches Kind seiner Zeit. Das 19. Jahrundert, die Regierungszeit der deutschstämmigen Königin und Kaiserin Viktoria im Speziellen, nimmt in England noch immer ein wenig die Rolle eines Goldenen Zeitalters ein. Für die einen. Für die anderen ist es gleichbedeutend mit der Geburt der unheiligen Dreifaltigkeit von Kapitalismus, Nationalismus und Kolonialismus, Vorboten der Exzesse des 20. - und 21. - Jahrhunderts. Wie so oft reflektiert Kunst und Kultur den politischen Kontext. Leben und Wirken Christopher Dressers ist somit geprägt vom industriellen Aufschwung Englands, und seiner politischen Führungsrolle auf der Weltbühne - jene bis zum heutigen Tage geradezu verzweifelt festgehaltene Erinnerung; und in Verweigerung des seit dem zweiten Weltkrieg offensichltich gewordenen Absturzes die Raison für manche der (aussen)-politischen Eskapaden zeitgenössischer britischer Regierungen von Falkland bis Irak. Die immense Erstreckung des British Empire, die Revolutionisierung der Transportwege und -mittel, und der lebhafte kulturelle Austausch, der keineswegs einer Einbahnstrasse folgend lediglich in Richtung der Kolonien floss, beeinflusste britische Alltagskultur. Es war unvermeidlich, Tausende von Kolonialbeamten, Agenten, Soldaten und Kaufleuten, nicht zu sprechen von ihren Familien, brachten jeweils ein kleines Stück Indien, Hongkong, Barbados oder Rhodesien mit nach Hause. Ihren triumphalen Ausdruck fand dies in der "Great Exhibition" des Jahres 1851 - ebenso wie genau 100 Jahre später das "Festival of Britain" der Schwanenesang auf jene lang vergangenen halkyonischen Tage wurde. Das Klischee vom "Tellerwäscher zum Millionär" war damals jedenfalls gleichermassen gültig für Grossbritannien wie für Amerika und in jenem geschäfts- und zukunftsorientierten Umfeld eröffnete dies dem aus ärmlichen schottischen Verhältnissen stammenden aber ehrgeizigen Christopher Dresser die Aufstiegsmöglichkeiten, die ihn zu einem der bekanntesten und erfolgreichsten Designer seiner Zeit machten.
"Wurde das Material in angebrachter und einfacher Weise verwendet? Passt die Form? Ist der Griff richtig angebracht und stimmt die Proportion zwischen Griff und Ausguss? Ist die Form im Ganzen graziös oder kraftvoll?" Viel Gewicht legt die Schau - die erste Gesamtretrospektive des vor 100 Jahren verstorbenen Designers - auf seine zukunftsweisende Rolle; auf die von ihm postulierte Einheit von Form und Funktion beispielsweise, Massenfertigung, Demokratisierung von Angewandter Kunst, Anwendung modernster Technologien - was ihn im Übrigen deutlich von der gleichzeitigen "Arts and Crafts"-Bewegung um (den genau gleichaltrigen) William Morris und Co. absetzt, die zwar ganz ähnlich "Kunst für Alle" propagierte, in Realität jedoch eine ausgesprochen elitäre (da nur von wenigen erschwingliche) Richtung vertrat.
Die Ausstellung ist grob chronologisch und in zwei Abschnitte gegliedert - der Wendepunkt ist sein Japanbesuch im Jahr 1876, als er in offizieller Funktion und als Repräsentant des Victoria & Albert Museums und der britischen Regierung den Fernen Osten bereist. In der Folge war er einer der Mitauslöser der europaweiten Japanmode des ausgehenden 19.Jahrhunderts.In stilistischer Hinsicht muss das Urteil allerdings gespalten ausfallen. Zwar gibt es jene "minimalistischen" Entwürfe der 70er und 80er Jahre, die ihm zu Recht den Ruf des Designpropheten eingebracht haben, und die aus der Sicht des modernen Betrachters den Höhepunkt seines Schaffens und der Ausstellung ausmachen. Wie die Schau jedoch auch zeigt, ist sein Gesamtwerk wesentlich ambivalenter, kommerzieller und zeittypischer und umfasst jene teilweise nicht anders als schauerlich zu beschreibenden chinoisierenden-barockisierenden-indisierenden-islamisierenden, kurz typisch historistischen Auswüchse in der Gebrauchskunst - eine individuelle Handschrift, ein persönlicher Stil lässt sich daher schwerlich ausmachen. Als Designer war er vorwiegend Geschäftsmann und dem Geschmack seiner Kundschaft verpflichtet und somit blieben ihm in künstlerischer Hinsicht Grenzen gesetzt - zu seinem eigenen grossen Bedauern, denn er wurde nicht müde seine Interpretation des Designers als Künstlers zu betonen, ein Anspruch der ihn mit seinen moderenen Designkollegen verbindet. Ein Artikel im 'Observer' stellte nämlich kürzlich die Frage ob Design inzwischen die Rolle der "Hohen" Kunst übernommen habe. Wenigstens von der wiederaufgewärmten Neugotik und dem Neoklassizismus des späteren 19. Jahrhunderts hat er sich weitestgehend ferngehalten.
Zurück zum Beginn und zu Paul Warwick Thompson. Wiederentdeckung oder nicht, hat er sich sechzehn Jahre später und nunmehr Direktor des Smithsonian Cooper-Hewitt National Design Museum in New York seinen Traum erfüllt. Im Fühling diesen Jahres präsentierte er den wiederentdeckten Designer einem amerikanischen Publikum in New York. Diesselbe Schau präsentiert sich nun im Victoria und Albert Museum, durchaus treffend. Das V & A ist nämlich das ehemalige South Kensington Museum, und war ursprünglich der 1836 begründeten British School of Design angeschlossen. Dort hatte der 13-jährige Dresser seine Ausbildung begonnen.
Christopher Dresser 1834-1904. A Design Revolution, V&A, 9.9.-5.12.04, £6; Katalog Michael Whiteway, V&A Publications, zahlreiche farbige Abb., £35, 240S.
© Dirk Bennett 2003